Prinzipiell gibt es zwei Arten des Kartonmodellbaus:

1.Die kunsthandwerkliche Art, bei der Unikate entstehen: Dies ist die althergebrachte Art. Da die dabei entstandenen Objekte vergänglich sind, kann deren Existenz i.d.R. nur indirekt (z.B. literarische Zeugnisse) nachgewiesen werden. Es ist jedoch davon auszugehen, daß sobald die technischen Voraussetzungen existierten, auch derartige Modelle verfertigt wurden. Die Voraussetzungen dazu sind: Das richtige Material (Papier, Papyrus, Pergament), das richtige Schreibwerkzeug (Rohrfeder, Zirkel, Lineal), die Kenntnis der Geometrie, das Werkzeug (Skalpell, Messer und Bügelschere), ein Klebstoff (Kleister, Leim). Die Ägypter hatten diese Voraussetzungen:

Darstellung von chirurgischen Instrumenten an der Rückwand des Tempels zu Kom Ombo (331-304 v. Chr.)

Gaben aus geschnittenem Papyrus als Talisman wurden in Sarkophagen gefunden.

Bekannt ist, daß die Ägypter bereits umfangreiche Erkenntnisse in Geometrie hatten. Somit ist auch davon auszugehen, daß es Kartonmodelle spätestens seit dieser Zeit gab. Vergleicht man zudem die Architektur der Ägypter mit den Megalithbauten der Steinzeit, so wird die Verwandtschaft zum Kartonmodellbau offensichtlich. Man stelle sich vor, jene Bauten nur aus Lehm, Holz oder Stein planen zu müssen.

Da Papyrus jedoch beim Falten schnell bricht, sind komplexe oder filigrane Formen damit nur schwer zu verwirklichen. Eine Pyramide ist aber ohne weiteres machbar.

Scherenschnitte waren in der Volkskunst des 18. und 19.Jhdts. beliebt. Objekte aus Papiermaché wie Schachteln oder Puppenköpfe wurden in Manufakturen in dieser Zeit in großer Zahl hergestellt. Sogar als Ersatz für Stukkaturen oder Skulpturen aus Stein oder Marmor wurde Pappmaché eingesetzt.

2. Die serielle Art, bei der Vervielfältigungen eines Originals entstehen: Diese entwickelte sich parallel zur technischen Möglichkeit der graphischen Vervielfältigung, d.h. der Produktion von Papier und der Druck mit beweglichen Lettern. Während in Nürnberg 1390 die erste deutsche Papiermühle entstand (Ulman Stromer) erschien dort auch der erste Bastelbogen für ein Kruzifix mit Sonnenuhr-Skala. Da zum Anfertigen eines Kartonmodells entsprechende Kenntnisse in Schreiben, Lesen, Rechnen, Geometrie nötig sind, fand der gedruckte Bastelbogen erst mit dem Aufkommen der allgemeinen Schulpflicht im Zuge der Industriellen Revolution weitere Verbreitung. So fiel die neue Drucktechnik der Lithographie auf dem Bildungssektor auf fruchtbaren Boden. Für entsprechendes Anschauungsmaterial herrschte nun Bedarf. Die ersten Ausschneidebögen scheinen dann Nachahmungen von Zinnfiguren gewesen zu sein als Figuren zum Ausschneiden und Aufstellen. Mit der Zeit wurden dann die Ausschneidebögen komplexer und ahmten den technischen Fortschritt im 19.Jhdt. nach. Koloriert wurden die Bögen mit Schablonen. Die ersten Offizinen gab es in Epinal (am Westrand der Vogesen), Weissenburg/Wissembourg (Elsass), Neuruppin (Brandenburg).

Im 20.Jhdt. verbesserte sich die Drucktechnik erneut. photochemische Verfahren ergaben Druckplatten von besserer Qualität. Der Siebdruck ermöglichte den Vierfarbdruck. Verlage: z.B. Schreiber (Esslingen), Möwe (Wilhelmshaven).

Nach einem Niedergang durch das Aufkommen des Plastikmodellbaus, erlebte der Kartonmodellbau in den späten 1980ern ein Comeback. In Comiczeitschriften für Kinder (Micky Maus „Seite 42“, YPS, Fix & Foxi, Bussi) waren Bastelbögen als Einlage oder als Werbemittel (Rückseiten von Cornflakes-Packungen) auch in den 1970ern und `80ern noch präsent. Mit dem Mauerfall waren dann auch Modelle aus den Ostblockstaaten erhältlich. Im Zuge der Globalisierung auch z.B. aus Japan oder den USA. Übrigens: Auch Modelle deren Begleittext in einer Fremdsprache geschrieben sind, lassen sich problemlos von Nichtsprachlern* nachbauen.

Kartonmodelle gibt es im Handel allen möglichen Schwierigkeitsgraden: Von Modellen, die vorgestanzt oder gelasert sind und von Kindern ohne Schere oder Klebstoff zusammengebaut werden können, bis hin zu Modellen von großer Detailtreue, die in chirurgischer Präzision nur mit Pinzette, Leuchtlupe und Skalpell hergestellt werden können. Der HMV (Hamburger Modellbau Verlag) hatte sogar geätzte Feinstbleche im Angebot um Schiffsmodelle im Maßstab 1 : 250 z.B. mit einer durchbrochenen Reling auszustatten, die in Karton nicht zu verwirklichen waren:

Dampfboot im Maßstab 1:250 – Größenvergleich mit Streichholz normaler Größe

Es sind jedoch auch schon Modelle im Riesenformat vertrieben und gebaut worden: Verlagsmodelle wie z.B. das Modell eines Flugzeugträgers, komplexe Burgenanlagen, Kathedralen oder ein Supertanker. Oder als Unikate riesige Papierskulpturen wie z.B. Elefanten in Lebensgröße. Auch richtige Gebäude oder Türme wurden schon aus Papier hergestellt und sind durch die Presse gegeistert.

Lebensgroßes Modell eines menschlichen Skelettes aus Karton. Umgesetzt als Papierskultptur (geknickte Kegelschnitte) und von Musterklammern zusammengehalten aus dem Taschen-Verlag.

JU-52 Trimotor, Metallfolienmodell im Maßstab 1 : 50, baubar auch mit Innenausstattung – sicherlich eines der schönsten und detailliertesten Kartonmodelle. Im Prinzip wäre das Modell – wie jeder andere Papierflieger auch – flugfähig baubar, es wäre dann aber auch sehr empfindlich.

Da Kartonmodelle i.d.R. genau wie Modelle im Computer nur die Oberfläche darstellen, ist sicher folgendes interessant: Verdoppelt man die Seitenlänge eines Würfels, so vervierfacht sich die Oberfläche und verachtfacht sich das Volumen. Entsprechend reduziert sich die Oberfläche quadratisch bei der Reduzierung des Maßstabs um die Hälfte. Da zudem die Darstellung vergröbert werden kann, bedeutet dies eine entsprechende Verringerung der benötigten Zahl an Bögen. Im Extremfall passt auf diese Weise das Modell eines ganzen Kreuzfahrtschiffes auf eine Postkarte:

Die logische Konsequenz aus dem Bestreben nach filigraneren Modellen und den technischen Grenzen des Werkstoffes Karton ist die komplette Umsetzung eines Modells in vorgestanztem/geätztem/gelasertem Feinsilberblech („Metal Earth“):

Im 21.Jhdt. entsteht eine Mischform aus privat und seriell durch die Möglichkeiten von Computer, Drucker und Internet. Waren bislang komplexes geometrisches Verständnis, graphisches Talent und die Zusammenarbeit mit Druckereien notwendig um ein Kartonmodell entwerfen und vertreiben zu können, so lassen sich heute mit Programmen wie z.B. „blender“ plastische Formen aus Punktwolken und finiten Elemente gestalten und die entsprechenden Abwicklungen mit z.B. mit „Pepakura“ erzeugen lassen, über das Internet verteilen und mit jedem gewöhnlichen Tintenstrahl- oder Laserdrucker in guter Qualität ausdrucken. Mit einem Lasercutter (Schneidroboter) sind dann auch filigranste Formen aus Karton herstellbar.

Wolfskopf – finite Elemente und deren Abwicklung

Auch gibt es eine Tendenz, Unikate quasi frei Schnauze zu bauen: Dabei werden grobe Formen mit Bleistift auf Wellpappe gezeichnet, mit dem Cutter ausgeschnitten und mit Heißkleber verbunden. Mechaniken werden mit Holzachsen und Sekundenkleber gebaut. Oft wird noch eine einfache Elektrik eingebaut. Mit Edding erfolgt dann meist das graphische Finnish:

Apropos Mechanik: Auch Papierautomaten sind erhältlich: